1990
- Peter Feler

- 30. Aug. 2023
- 4 Min. Lesezeit
Ein Sommer, vom Elfjährigen durchlebt, ist lang, recht lang noch ist der Sommer, voll Fahrradfahrtwind und Freibadwiesenweit:
»Oh ah, say oops upside your head«,
so solarplexuskitzelnd und hellicht von Versprechen durchweht, die sonnenwarmen, sonnencremig parfümierten Lüftchen dort ums dörfliche Pool-Rechteck, und längst Programm: gucken und beguckt werden (wollen),
»Hey what's your word? What's your game?«,
»I told you homeboy, u can't touch this«.
Kicherblicke aus den Mädchenlagern, Handtuchwedeln und ›Nun guck doch her!‹-Tänzeleien: die erstaunliche Anmut der Turnkunststücke, Radschläge Richtung Jugend – und diese von den Badeanzügen nur leicht angeschnittenen Poprofile
– (»wow!«) –:
Radlerhose, halte bloß im Zaum das pochende Erwachen!
Lieber erst mal 'ne Pommes holen und unter Kumpels pro Nintendo Sega blödreden.
»It must have been good
but I lost it somehow«.
Doch Deinetwegen ist jener Ort in jenem Sommer noch weit zaubrischer gewesen, ach Mädchen aus Karl-Marx-Stadt! – Dass nun eben DU auch dort sein konntest, hieß großes, lustvoll wehes Sich-ins-Freibad-Sehnen.
Plötzlich warst Du dagewesen, brachtest dies Wallen ins Sonnengeflecht, machtest das Neue der zweiten Schule noch viel neuer – und die alte Grundschulliebe schnell vergessen (hatte man eh nur immer der Kasper sein sollen, der Lachen macht – und außer diesem gar kein Lohn). Unter den Schwüngen Deines Mittelscheitels, zwischen den seitlich dunkelblond herabfließenden Dauerwellen: so viel schönes Gesicht: hoch und weit, die Stirn, groß, die grünen Leuchteaugen, keine kleine Nase, so aber desto andersschöner, der Mund, die üppigen Lippen zuallermeist zum Lachen geformt (wie kann man nur immer so unverblümt fröhlich sein?), daraus zum Glück kein Sächseln, und doch immer sacht am Hochdeutsch vorbeigesäuselt: Exotik im Dorf, weite Welt im kleinen Klassenraum:
»Es heißt jetzt Chemnitz, aber ich sag' noch Karl-Marx-Stadt.«
Aha. (Staun, staun.) Lass mich Dein Trabant sein! (Und siehst Du meine Basketballbotten
mit Neonschnürsenkeln – in zwei Farben, yeah! –?)
Dann war Zelten bei Emma. Ziel für die Nacht: durchmachen. Ziel erreicht. Im Freibad dann den Tag verschlafen. Und Dich.
Dann war Party bei Maren. Ziel für den Abend: Dir näherkommen. Dein zaghaftes Tanzen und Strahlen, das ›Komm doch!‹ sagte. Aber gut sich zu Musik bewegen? Nee. Und »meist immer« nur diese Kacklieder:
»Step by step, oh girl,
I really think it's just a matter of time.«
Von wegen.
Dann war Klassenfahrt nach Hameln. Letzte Abendfreizeit auf der Herbergswiese; gülden floss die Weser durch die Gegenwart.
»Boah, Jungs, ich brauch' ma' 'ne Pause!«
»Ey, gefummelt wird nur aufm Platz, nä!«
Ich wartete am Grillunterstand, bereit, angesprochen zu werden. Du schicktest als Unterhändler Maren vor:
»Kann sein, dass X. in dich is'. Und du, bist du in sie?«
»Hm, na ja. Also, nich' unmöglich. Bisschen vielleicht.«
»Dann geh doch ma' hin, musst'de mit ihr reden!«
Aber ey, die Jungs schnauften so aufm Bolzer, die konnte ich doch jetzt nicht im Stich lassen. Und Serkan wollte auch noch 'ne geheime Cola ausgeben.
Und schon war alles Glitzern vom Fluss gestrichen von in Reue durchwachter Nacht. Hätte, könnte, würde / Würde, Können, Haben. – Aber nix da.
Wie rührend um meinen Schutz bemüht, um den Erhalt von Selbstwert und Seelenheil, vermeinte mein Musikgeschmack sich wandeln zu müssen vom harmlos fröhlich pop-flockigen
»And I go la la la la la / she's got the look«
zum vermeintlich verwegenen
»She got you by the balls«-Reibeisen.
Ach du dünnes Virilitätsillusiönchen! –
Denn bei den schamhaarfreien Eiern würde unsereinen
kleinen Scheißer Weiblichkeit
ergreifen und geschweige streicheln
freilich itzt einstweilen und für Zeiten
ganz allein in triebgetriebenen Träumereien –
vergleiche: Unterwäscheseiten,
OTTO-Katalog (vulgo: OTTOs Möpse).
Der kalte, alte Alltag dann auf der Onanie-, äh: Orientierungsstufe wieder.
Ding-dong: endlich Schulschluss. Flach überdachte Fahrradständerreihen, darin mein silbergraues 24er – mit Tacho natürlich (»Ey, war ich letztens locker über 40 km/h!«).
Beim Schlossaufschließen erspäht: – Da!: Ein kleines Röllchen Karopapier steckt im Gepäckträgergestänge! Gespanntes Entrollen, einmal auffalten: sieben Bleistiftzeilen:
»Hey PIDDI!
Du weißt nicht wer ich bin.
In diesem Brief möchte ich
Dir sagen das ich dich sehr
mag. Ich bin nicht Sandra.
Ich bin .?.?.?.?..?.?.?..?.?..?.?. .
Deine ....?...?..«
Deine Zeilen! Du! Das ist klar, und soll's wohl sein – trotz Verschleierungsbemühen im Handschriftengemisch. PIDDI, Du, Dir, Deine – fünf unterschiedliche kapitale Ds, und du doch: die Eine! Die Kringelreihen (statt Punkte), die Fragezeichenstaffel: alles für mich, alles meinetwegen!
Ein halbes, gefaltetes A4-Papier, zum Röllchen grollt: mein größter Schatz.
Oh brausende Heimfahrt!
Lebenslust und Lampenfieber!
Daheim im eigenen Zimmer: das Röllchen ins geheimste Versteck gesteckt, ins Bauschaumlöchlein im Schlitz unter der hölzernen Dachfensterbank, in der kiefernholzvertäfelten Dachschräge.
Wie oft nun ging das Röllchen raus und rein und raus und rein?! (Nun ja.)
Und doch: das Lampenfieber – letztlich überwog's. Kein Auftritt. Deine vielen lieben Einladungen: in den Wind geschlagen.
Zumal ich doch mit Basti die Bude noch zu Ende bauen musste. Zumal Manu mir doch auf seinem Master System vorspielen wollte. Zumal Mehmet doch zum »Planet der Affen«-Gucken geladen hatte.
Es war ja immer was.
Und das konnte man jetzt auch nicht einfach alles absagen.
Dann winktest Du der Kindheit ade
und grußlos mir, der blieb.
Du lächeltest ein andres Lächeln in eine andere Richtung: die der großen Jungs – die sich weideten an den Kleidern Deiner neuen Fleischlichkeit.
Ich guckte blöd aus der Neonwäsche, wie retardiert in meiner dumpfen Putzigkeit.
Irgendwo dahinten vielleicht: mein sumpfiger Weg Richtung Reife.
Da ging ich lieber wieder spielen.
It could have been good
but I lost it somehow.
Feiger Idiot.
[PF]
***

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